Briefe an Freunde, Aktuelles aus Novosibirsk (Norbert Schott)

Die Nazis und der Waschlappen? Ich weiß es nicht

27. Februar 2014

An sich hatte ich vor, nach Abschluss der Olympiade noch ein paar Worte zu meiner Bemerkung bezüglich der Situation von Schwulen und Lesben in Russland zu ergänzen. Aktuell finde ich aber ein anderes Thema deutlich gravierender, und das ist die Lage in der Ukraine.

Eine realistische Einschätzung der Lage ist in meinen Augen schier unmöglich. Schaut man russische und deutsche Nachrichten, so wird scheinbar von verschiedenen Planeten berichtet. Weggelassen wird auf allen Seiten, und zwar gehörig. Tagelang konnte ich nicht ansatzweise verstehen, ob nun die europäische oder die russische Presse mehr Propaganda betreiben. Aktuell scheint mir, dass offensichtlich die westliche Darstellung näher an der Realität war: ein frustriertes Volk, viele friedliche Demonstranten, etliche verrückte Idioten. Die russische Darstellung wäre dagegen: ein überforderter Präsident und ein randalierender Nazi-Mob, finanziert von Amerika.

Mein Eindruck, dass eher die russische Presse übertreibt, gründet sich darauf, dass es in weiten Teilen der östlichen, pro-russischen Ukraine im Moment ruhig ist. Von der Krim abgesehen keinerlei Demonstrationen für die bisherige Regierung. Im Gegenteil, der bisherige Präsident Janukowitsch wurde in seiner Hochburg Donezk nicht aus dem Land gelassen und seine Widersacherin wurde in seiner zweiten Hochburg Charkow ohne radikale Einflüsse laufen gelassen. Das Landhaus Janukowitschs will niemand mehr bewachen, Berkut hat die Waffen sehr schnell niedergelegt und im Parlament - wo die Mehrheit in der Hand von Janukowitschs Partei ist - wurde seine Abwahl beschlossen.

Russische Kollegen würden meiner Darstellung natürlich sofort widersprechen: Die Mehrheit hat nur so abgestimmt, weil sie sonst der pöbelnde Nazi-Mob vor der Tür gelyncht hätte. Und Berkut war die ganze Zeit vollkommen unbewaffnet und hätte schon monatelang schießen können. Erst nachdem der Mob losgemordet hat, musste man sich wehren. Und grundsätzlich sind die verabschiedeten neuen Gesetze reine Makulatur, da eine Verfassungsänderung ohne Unterschrift des (geflohenen) gewählten Präsidenten nicht gültig ist.

Einig sind sich alle - Janukowitsch musste weg. Europa, weil nach der uns bekannten Darstellung schießen lassen hat. Russland, weil er nach der hier gültigen Doktrin viel zu spät eingegriffen hat. Kein Scherz, wir waren am Wochenende im Dorf, wo einem jeder offen sagt: "Dieser Waschlappen hätte sofort schießen sollen!" Es schockiert mich, wie stumpf gekonnte Propaganda Menschen machen kann.

Ja, Janukowitsch war gewählt. Aber wenn ich als Präsident sehe, dass Teile meines Volkes bereit ist, sich mit Keulen und Äxten bewaffnet gegen mich zu stellen - dann rufe ich Neuwahlen aus und zeige, dass diese Verrückten keinen Rückhalt im Land haben! (Wenn ich solche Wahlen nicht gewinnen kann, dann ist meine Legitimation fragwürdig - und warum sollte ich dann an diesem Posten kleben?)

Aber genauso verurteile ich die Protestierenden - egal wie wütend oder hoffnungslos diese waren. Wenn ich als Oppositionsführer sehe, dass eine Demonstration sicher zum Tod dutzender Menschen führen wird - sei es aufgrund von Provokateuren oder aufgrund von irren Radikalen in meinen Reihen -, dann bin ich klug genug und vermeide ich eine solche Eskalation.

Dass beiden Seiten diese Vernunft fehlte, ist unglaublich traurig.

Was der Ukraine fehlt, ist eine nicht korrupte Führungsperson, welche klar aufzeigt, welche Folgen welche Politik hat. Eine Annäherung an Russland mit finanziellen Vorteilen aber einer von Moskau diktierten Politik. Oder eine Annäherung an Europa, mit liberaler Politik, aber auch mit einer langen und harten finanziellen Durststrecke. Aber weiter hin und her taumeln zwischen EU und Russland, wie schon die letzten 15 Jahre, führt nur zu noch mehr Armut und im schlimmsten Fall noch mehr Toten.

Ich vermisse in der Ukraine eine Person, welche ihr Volk eint. Und sei es ein ukrainischer Putin. Eine Person, welche dem ukrainischen Volk ein gutes Bauchgefühl gibt: Ja, diese Person möchte unser Land voranbringen (und hat nicht den eigenen Reichtum als vorrangiges Ziel). Klitschko nehme ich dies ab (er ist reich genug) - aber ihm fehlt das politische Geschick und die Rhetorik für diese Rolle. Timoschenko ist bekannt für Korruption - da sind sich Ukrainer und Russen einig. Wer bleibt übrig? Die Nationalsozialisten von "Swoboda", welche bei Bildungsreisen in Deutschland der sächsischen NPD-Fraktion einen Besuch abstatten? Das kann es ja nun auch nicht sein.

Wie man es auch dreht - ein Überspringen auf Russland halte ich für ausgeschlossen. Eines hat die mediale Darstellung dieser Revolution den Russen verdeutlicht - eine Revolution spült vermutlich wieder nur andere korrupte Kräfte an die Oberfläche, kostet aber sinnlos Menschenleben und treibt ein Land in den Abgrund. Egal, wohin die Ukraine die nächsten Stunden, Tage oder Wochen steuert - Putin sitzt weiter fest im Sattel. Und bitte versteht dies nicht als Lob an Putin - es ist einfach eine Feststellung.