Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Fernsehen in Russland

15. April 2003

Die ersten zwei Moskau-Wochen sind vorbei, so langsam gewöhne ich mich auch wieder an dieses große, funktionale Dorf. Petersburg ist eindeutig schöner – das habe ich vergangene Woche wieder gemerkt – nur eben auch gleich wieder weniger russisch. 

Egal, ich wollte seit langem einmal über das russische Fernsehen erzählen. 

Die Zahl der Sender ist auch hier erstaunlich groß, selbst in Sibirien gibt es in jeder Stadt mindestens sechs Kanäle. Diese müssen natürlich irgendwie finanziert werden. Also gelten zwei Devisen: sparen und werben! 

Sparen äußert sich in lustigen Synchronisationen. Lisa Simpson hat ebenso wie Bart und Homer eine tiefe, unbetonte Männerstimme. Lippensynchron? Wenn man Glück spricht dieser Mann wenigstens zum Zeitpunkt des Originaltons. Oft hat man aber Pech, dann spricht er mit fünf Sekunden Verspätung ... das wirkt dann richtig logisch bei Streitgesprächen zwischen vier Personen. Reiche Fernsehsender erkennt man übrigens daran, dass für weibliche Rollen immerhin eine zusätzliche Frau engagiert wird. 

Rex, der deutsche Polizeihund, bellt übrigens leiser – für Geräusche wird der Originalton leise beibehalten. 

Auch bei den Nachrichten wird gespart. Die neuen Bilder aus dem Irak sind zu teuer? Kein Problem, dann zeigen wir einfach noch mal den Beitrag von gestern (Erster Kanal, Abendnachrichten)! 

Scheinbar reichen diese Sparmaßnahmen noch immer nicht, deswegen wird geworben. Filme werden alle im Halbstundentakt unterbrochen, zusätzlich werden am unteren Bildrand ständig kästen mit Werbung eingeblendet: "Lederwaren! Sonderpreise auf der Uliza Lenina!" 

Das "Inselduell" wird vom Safthersteller J7 gesponsort. Also wird das Logo J7 in den Sand am Strand gekratzt – dieser Strand wird ständig eingeblendet. An den Bäumen baumeln Tetrapacks, in den Spielen müssen die Mitspieler Obst und Tetrapacks sortieren. 

Mein persönlicher Favorit ist "Wer wird Millionär". Logo, Art des Moderators, Studio und Erkennungsmelodie sind vollkommen identisch mit der uns bekannten Sendung. Zu gewinnen gibt es nur eine Million Rubel, 1/34 der deutschen Summe. Nach der 1000-Rubel-Frage sagt der Moderator: "so, die 1000 Rubel sind Ihnen sicher, Zeit zum Zurücklehnen. Lassen sie uns doch ein Bier trinken." Kandidat und Moderator nehmen ein Glas. Der Kandidat trinkt, der Moderator hält sein Glas jedoch in die Kamera und erzählt: "Baltika, das leckere, köstliche Bier aus Petersburg – herb, würzig, ..." Nach 20 Sekunden nimmt er dann auch einen Schluck und schiebt ein "köstlich" hinterher. 

Zwei weitere Sendungen begeistern mich. "Nachrichten der Dienststelle" zeigt die Arbeit der Polizei. Ob die Festnahme eines Drogendealers, das Auffliegen eines Mineralwasserfälschers oder die Überprüfung von Prostituierten – bei allen Aktionen ist die Kamera live dabei! In jeder Sendung geht es mindestens einmal um Drogen und einmal um den Straßenstrich, stets randaliert einer der Festgenommenen vor laufender Kamera in der Zelle. Es wird scheinbar auch nicht gefragt, ob sie gefilmt werden möchten. 

Noch spannender ist "окно" – deutsch: "Fenster" – die russische Talkshow schlechthin. Schon der Moderator wirkt wie ein intellektueller Psychopath. Die Kandidaten bekommen Headsets an den Kopf geklebt – das wirkt fetziger. Zwei Drittel der Sendungen drehen sich um Impotenz: die Freundin geht mit fremden ins Kino, weil der Freund nicht jeden Abend sein bestes Stück hochkriegt. Das ist offenbar unverzeihlich. Dann darf man nach Meinung des Publikums auch mit anderen ausgehen – was in Russland eigentlich tabu ist. 

Am Baikal hat uns ein Thema von "окно" besonders begeistert: ein Kerl hat ein Mädchen kennengelernt, aber immer wenn er mit ihr ausgeht, rennt sie im Stundentakt aufs Klo. Das ist zuviel, meint auch eine Freundin des schuldigen Mädchens – Diagnose: drogensüchtig. Sie selbst streitet natürlich alles ab und als Gegenbeweis schleppt sie ihren Kunstprofessor an. Beide offenbaren plötzlich, dass sie aus menschlichen Verdauungsprodukten Skulturen bauen. Im Studio wird ein stinkender Hitler gezeigt, Kommentar: "Hitler ist halt einfach Scheiße!" Alle sind entsetzt, die Schuldige wird wütend und beschmeisst das Publikum mit ihrem stinkenden Hitler. 

Das ist Action ... Das ist Russland ...