Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Ikea, Pausen, Löhne, Piercing, Synchronisationen

28. Oktober 2002

"Есть идея, есть Икея!" - gibt es eine Idee, gibt es einen Ikea! So der Slogan der zwei Moskauer Möbelhausfilialen. Da unserem Wohnheimzimmer irgendwie die Gemütlichkeit fehlte, sind wir gestern kurzerhand an den Stadtrand gefahren und haben Regale eingekauft. So sehr mir Russland gefällt - zauberhaft endlich mal wieder in die westliche Konsumwelt eintauchen zu können: Freundliche Verkäufer sowie geordnetes und vollständig vorrätiges Sortiment! Für zwei Stunden kommt man sich vor, wie im Dresdner Elbepark. Den Unterschied merkt man allenfalls beim Anblick des Kassenzettels: Fragt man sich in Deutschland, was Stan war (Regal oder Kerzenständer), rätselt man hier über стэн. 

Zwei Stunden später dann der krasse Gegensatz: Siegfried geht in das Internetcafe und möchte surfen. Dazu benötigt man einen kleinen Zettel, auf welchen ein gültiges Passwort steht, erhältlich an der Theke. Hinter dieser stehen drei Leute, aber sie unterhalten sich - denn gerade ist 15 Minuten "technologische Pause", wie ein Schild erklärt. Für das Herausgeben des Zettelchens benötigten die Mitarbeiter ganze zwei Handgriffe - doch war es ihnen schier unmöglich, ihrem Kunden vor Ablauf der Pause den Gefallen zu tun. (Im gleichen Café kann man seine Cola über den PC bestellen, mit dem Wort Service ist man also eigentlich wirklich vertraut!) 

Das Phänomen der "technologischen Pausen" gibt es übrigens überall - an der Metrokasse, bei der Frau an der wage (!) am Gemüsestand im Supermarkt oder auch auf dem Bahnhof. Wohlgemerkt sind die täglich bis zu vier "technologische Pausen" kein Ersatz für die Mittagspause - diese gibt es unabhängig davon auch noch! 

Alles relativiert sich natürlich, wenn man die Löhne der Mitarbeiter hört. Ein Euro entspricht rund 31 Rubel. Eine Hilfskraft bei MC Donalds verdient pro Stunde 25 Rubel! Durchschnittlicher Monatsverdienst für einfache Angestellte liegt bei 2000 bis 3000 Rubel. Rentner bekommen eine monatliche Rente von 1200 Rubel. Und jeder Student - so auch wir - bekommt ein Stipendium zwischen 200 und 300 Rubel - falls man nicht dummerweise durch eine Prüfung gerauscht ist. 

Dennoch kostet ein Joghurt zwölf Rubel, der Liter Milch ebenso. Ein Brot gibt es in Moskau ab 10 Rubel. Unter 500 Rubel ist keine Wohnung zu bekommen, in Metronähe bezahlt man das dreifache. Auch wenn die einzelne Straßenbahnfahrt mit sieben Rubel billig erscheint, die Jahreskarten für Bus und Bahn oder Metro kosten jeweils 3000 Rubel! 

Umso erstaunlicher ist es, wie sich die Leute dennoch präsentieren. Wirklich jeder ist (selbst für westliche Verhältnisse) schick angezogen, keiner wirkt verwahrlost! Die Armut ist allenfalls an den verwahrlosten Häusern zu sehen, niemals an den Menschen! 

Neben Ikea war unser Wochenende - ausnahmsweise mal komplett in Moskau - vor allem durch das Nachtleben in allen nur denkbaren Facetten gekennzeichnet. 

Wir im ClubFreitag waren wir kurz in der Wohnheimsbar Billiard spielen, dann wurden wir von Freunden auf eine Zimmerparty von wildfremden Leuten eingeladen. Sieben Flaschen waren für rund 15 Leute bereitgestellt. Sofort wurden wir zur schon wohlbekannten "old Russian tradition" - eine Phrase, die wohl jeder trinkfeste Russe kennt - eingeladen. Glücklicher Weise waren die Herren so dicht, dass nach der dritten Runde keiner mehr bemerkte, dass wir immer nur anstiessen und nie tranken. Auf drei mal vier Metern spielten sich gleichzeitig Liebesdramen, Sauforgien, Disco mit grauslichem russischen Pop, Anmachen und politische Diskussionen ab. Der ehemalige russische Tschetschenien-Soldat tanzte am Ende mit einem Kaukasier, der fünf Minuten vorher noch seine Gaspistole am offenen Fenster demonstriert hatte ... 

Samstag bewunderte ich dann bei unseren Punks die Kunst des Piercings: man nimmt hier einfach eine heiße Nadel, sticht sich diese (in diesem Fall) durch die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, wischt das Blut mit viel viel Watte ab, lässt die Nadel 15 Minuten in der Hand stecken und rammt dann einen Ring durch das Loch. Falls es groß genug ist - wenn nicht muss man halt aufgeben und es in zwei Tagen mit einer größeren Nadel nochmal probieren. Alles natürlich ohne Narkose, der Kerl war nichtmal betrunken! Und in dem Raum wurde mir von den Bewohnern übrigens verboten, mit Socken herumzulaufen, weil der Fußboden zu dreckig ist. 

Jedenfalls haben wir später Filme angeschaut - im Gegensatz zur Kinoversion grauslich syncronisiert. Ein Mann spricht alle Stimmen, meist ohne jede Betonung. Das würde ja noch gehen - wäre er wenigstens zeitlich halbwegs synchron. Aber nein, immer wieder gerate ich in die Versuchung, dass Englische im Hintergrund verstehen zu wollen, weil das russische Geplapper einen halben Satz hinterherhängt! 

Am Sonntag waren wir dann ganz normal beim Abschlussabend einer Theater-Universität, was dort in den einzelnen kurzen Nummern an Tanz, Schauspiel und Artistik geboten wurde, ist einfach unbeschreiblich und schlicht und ergreifend bewundernswert! 

Drei Abende, jeder eine Geschichte für sich - das ist Moskau! 

P.S.: Wieder einmal ein Lieblingswort: Friseursalon heisst Parikmacherskaja (парикмахерская) und kein Russe versteht, warum ich darüber lächel.