Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Über die Bedeutung von Häschen

12. Juni 2003

Hoppel hoppel! Häschen haben im russischen zwei Bedeutungen. Die erste dürfte weithin bekannt sein: ein Wolf mit Schlaghosen rennt einem knuffeligen Langohr hinterher und ruft gelegentlich "Ну погоди заец ... Na warte Hase" ... Der wohl niedlichste sowjetische Trickfilm! Die zweite Kategorie russischer Häschen hoppelt auch gelegentlich davon, denn Schwarzfahrer werden hierzulande als заец ("sajez") bezeichnet. 

Vor unserem Wohnheim fährt die Straßenbahnlinie 19, und just auf dieser läuft seit drei Wochen ein sehr interessantes Pilotprojekt: "Внимание, заеци ходят пешком! ... Achtung, Häschen laufen zu Fuß!" 

In vielen russischen Städten fahren in Bussen und Bahnen Fahrscheinverkäufer mit, in Moskau hingegen gibt es Kontrolleure. Kommen diese vorbei - das geschieht oft, aber nicht immer - drückt man ihnen 10 Rubel (30 Cent) in die Hand und gut ist. Damit soll nun Schluss sein. Auf der Linie 19 wurden an der vorderen Türen Drehkreuze eingebaut. Damit sich diese drehen, braucht man eine Magnetkarte ... Wer in die Bahn will, kommt nur noch mit Fahrschein ran. 

Das klingt nach einer guten Idee, in der Praxis ist es aber reichlich dumm! (1) Nun braucht man in jeder Bahn vier neue Mitarbeiter. Zwei kontrollieren, dass niemand durch die anderen Türen einsteigt, einer verkauft die Magnetkarten, die kein Fahrgast besitzt, und einer beruhigt die Leute, die sich über das System aufregen. (2) Früher fuhren Rentner, Kriegsveteranen und Чернобыльчики ("Tschernobyltschiki", Opfer von Tschernobyl) einfach kostenlos, heute braucht man man diversen Haltestellen Verkaufsstände, wo es die für льготники ("lgotniki", Rabatt-Berechtigte) Freifahrscheine gibt. (3) Früher hüpften und hoppelten die Passagiere durch drei Türen in die Bahn, jetzt quält sich alles durch ein einzelnes träges Drehkreuz, die Bahn steht bis zu fünf Minuten an den Haltestellen. 

Fazit: Nicht nur Häschen laufen zu Fuß, sondern jeder, der pünktlich ankommen will. 

Nun könnte man denken: das Pilotprojekt scheitert. Aber nein, wenn ein Russe einmal eine idee hat, wird diese durchgezogen. Schon jetzt wird in den Bahnen per Lautsprecher geworben: bis Jahresende werden alle Straßenbahnen auf Drehkreuze umgestellt, im nächsten Jahr folgen dann die Busse und Trolleybusse. "Liebe Fahrgäste, merken sie, wie praktisch das neue System wird?!" Fröhliches hoppeln! 

Das ist natürlich nicht Alles, was mir in den Bahnen der Linie 19 gefällt. Seit einigen Monaten hängt dort ein neuer Strafenkatalog mit äußerst mysteriösen Verboten ... Siehe Anhang! 

Noch etwas zum Mysterium russischer Verkehrsmittel: ich sollte letztens für Freunde das neue russische Kursbuch kaufen. In Russland gibt es 85 800 Kilometer Eisenbahn, das Land ist größer als Europa ... Aber das Kursbuch gibt es allen ernstes nur in einem einzigen Laden in Moskau. 

Heute haben wir einen Feiertag ... "Tag der Unabhängigkeit". Von was man eigentlich unabhängig wurde, wissen nichtmal die Russen. Aber Hauptsache ein Feiertag. Davon gibt es recht viele hier: Weihnachten nach altem Kalender, Weihnachten nach neuem Kalender, Neujahr nach altem Kalender, Neujahr nach neuem Kalender, Tag des Soldaten, Tag der Versöhnung (ehemals Tag der sozialistischen Oktoberrevolution), Tag des Sieges und und und. 

Alle Tage haben eines gemeinsam: Es darf Wodka getrunken werden, ohne das die Ehefrau schimpft. Der Unterschied zwischen den Feiertagen ist nur der Ort des Trinkens: Weihnachten trinkt man daheim, Silvester auf dem Roten Platz, Versöhnung wird auf dem Boulevard gefeiert, der Sieg im Park des Sieges und so weiter. 

Und während sonntägliche Feiertage in Deutschland quasi verloren gehen, ist man da in Russland pragmatischer: dann ist Montag frei. Und wenn Donnerstag gefeiert wird, ist am Freitag auch alles geschlossen. Die Russen nennen das похмелый день ("pochmely djen", Katertag). Gegen einen ordentlichen Kater - da ist man sich in Russland einig - hilft übrigens nur Eines: Weitertrinken! Es ist also ganz normal, das Russen früh um zehn mit Bier in der Hand über die Straße laufen. 

Es gibt bei den Feiertagen nur eine kleine Ausnahme: 8. März, der Internationale Frauentag. Auch da haben alle frei, nur Russinnen Trinken zum Nachsehen der Männer weniger Wodka. Ihr Wohlbefinden ist quasi weniger an Prozente gekoppelt. Vielmehr machen sie eine saubere Wohnung, Blumen, Schokolade glücklich. So werden aus den russischen Rauhbeinen für einen Tag Gentlemen. 

Ein schönes Wort habe ich letztens noch entdeckt: den шлафрок ("shlafrok"). 

[übersetzung des strafenkataloges unter beibehaltung der satzstruktur] 

Strafe ... ... Für fahrscheinlose Fahrt: 100 Rubel
... Für nichtbezahlte Beförderung von Gepäck: 50 Rubel
... Für die beförderung explosionsgefährdeter, leichtentzündlicher, giftiger und stinkender Dinge: 300 Rubel
... Für die Beförderung stacheliger, scharfer und leichtzerbrechlicher Gegenstände ohne Überzug und gebührender Verpackung, Ski und Schlittschuhe mit offenen, scharfen Teilen ... 100 Rubel
... Für die Beförderung verbotener Dinge gemäss den Regeln zur Beförderung des Gepäcks mit einem Ausmaß größer als zulässig oder eine Länge der Gegenstände größer als festgesetzt in diesen Regeln (ausser Ski): 100 Rubel
... Durchführung mechanischer Handlungen zur Öffnung der Türen, Verhinderung des Öffnen und Schließens der Türen, außer Unumgänglichkeit des Vorbeugens unglücklicher Fälle, auftretend in der Kabine des Fahrers: 100 Rubel
... Für die Fahrt in beschmutzter Kleidung, Beförderung von Gegenständen und Dingen, welche den Besitz oder die Kleidung von Passagieren verdrecken, Verstoß gegen die Ordnung und die Regeln der Beförderung von Haustieren, welche in den Richtlinien festgelegt sind: 50 Rubel
... Für Nutzung der Sitze in der nicht hauptsächlichen Bestimmung: 10 Rubel