Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Einschätzung nach der Wahl in Russland I

09. Dezember 2011

Die deutschen Journalisten freuen sich wieder einmal über das russische Volk, was gegen den Häuptling aufbegehrt - aber was ist dran?

Erstaunlich viel!

Fakt ist, da hat die deutsche Zeitungslandschaft sicher Recht, dass das Wahlergebnis eine ungeheure Schlappe für die gelenkte Demokratie von Wladimir Putin ist. Nur 49 Prozent für seine Partei "Einiges Russland" - ach Moment, nach aktueller Leseart soll man ihn und die Partei ja nicht gleichsetzen, er wäre ja kein Mitglied, sondern nur der Vorsitzende. Angesichts der Tatsache, dass diese 49 Prozent auch noch erschwindelt wurden, muss man klar und deutlich anerkennen, dass die russische Gesellschaft ihre politische Passivität offensichtlich beenden möchte.

Wurde geschwindelt? Sicher ja, man die Wahlergebnisse vergleicht!

Xenias Tante ist Gewerkschaftsführerin in einer Nowosibirsker Schule, und wurde angehalten zu überprüfen, dass alle Lehrer wählen gehen. Moment, "wählen" gehen oder "richtig wählen" gehen? Ihre Antwort auf meine Frage war eindeutig: "wählen" gehen. Meine Kollegen haben ausprobiert, ob kurz vor Schließung der Wahllokale ihre persönlichen alle Stimmzettel noch vorhanden waren oder schon von fremden Händen ausgefüllt wurden - aber auch hier keine Hinweise auf Manipulationen. Von gefälschten Protokollen liest man in Nowosibirsk sehr wenig.

Und das sieht man - meiner Meinung nach - an den Resultaten: In Nowosibirsk liegen die Kommunisten vor dem "Einigen Russland" und sogar die oft als echte Opposition bezeichnete Partei "Jabloko" (Apfel) hat fast die 7-Prozent-Hürde übersprungen.

Andere Ergebnisse hört man beispielsweise aus Moskau, Nowokusnjezk und natürlich aus Tschetschenien. Dort sind ja angeblich 90 Prozent der Wähler zur Wahl gegangen, um mit 99,7 Prozent für "Einiges Russland"zu stimmen - für eine Region mit Unabhängigkeitsbestrebungen eine recht mysteriöse Entscheidung. Auch diverse Video-Aufnahmen aus den Wahlbüros vieler Regionen sprechen eine eindeutige Sprache - es gab vielerorts Manipulationen.

Nun weiß Russlands Gesellschaft selber nicht, was man aus dieser Situation machen will. Die Ohrfeige sitzt und meiner Beobachtung nach freut sich das ganze Land über das Ergebnis. Das Postengeschiebe der letzten Wochen hat viele verbittert - man fühlte sich als Stimmvieh, "Barany" (Schafe), verschaukelt. So intensiv wie vor und nach dieser Wahl wurde auch unter meinen Kollegen noch nie diskutiert! Und insofern hat Dmitry Medwedew durchaus Recht, wenn er nun von "Demokratie in Aktion" spricht - auch wenn die deutsche Presse dies als höhnische Aussage wertet.

Bei einem weiteren Detail liegen die deutschen Berichterstatter meiner Meinung nach nicht richtig - 5000 Demonstranten in Moskau sind für eine Stadt mit 20 Millionen Einwohnern eine Nichtigkeit! Viele bleiben nicht aus Passivität sondern bewusst zu Hause - sicher auch morgen, wenn eine landesweite Protestaktion angekündigt ist. Zum einen ist im Moment niemandem an einer Destabilisierung gelegen. Zum anderen gibt es auch keine wirklich fähige Opposition. Käme es nun zu einer Revolution, würden wie in den 1990er Jahren irgendwelche zwielichtigen Geschäftsmänner mit Beziehungen nach Amerika das Ruder übernehmen - so die Sorge. Dann doch lieber die KGB-Garde, die jetzt das Land lenkt.

Und so wird wohl auch im April wieder Putin Präsident - weil es keine Alternative gibt. Das russische Volk witzelt schon, wie die Übergabe des roten Koffers ablaufen wird. 
Putin: "Den Koffer kannst Du behalten!" 
Medwedew: "Wieso, willst Du ihn nicht haben?!" 
Putin: "Glaubst Du, ich habe Dir vor vier Jahren das Original gegeben?"