Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Frühling

13. Februar 2004

Wir haben Frühling in Sibirien. Das äußert sich so: die Russen schauen aus dem Fenster und sinnieren: "Schön, der Frühling hat begonnen!" Ich schaue aus dem Fenster und frage verwundert: "Moment, es liegt ein Meter Schnee und es sind minus 5 Grad!" Kopfschütteln: "Aber merkst du denn nicht, die Sonne scheint ganz anders und es riecht nach Frühling." 

Aber die Russen haben Recht behalten, wenige Tage später hatten wir Plusgrade. Der Schnee vom Dach meines Hauses wurde flüssig. Zum Glück ist der Fußboden in meiner Wohnung schief, so sammelt sich das Tauwasser, welches direkt durch meine Küche abläuft, in den Ecken. Ich bekomme also keine nassen Füße. Nur staubige, von der Farbe, die sich überall - außer natürlich in den ecken - ablöst. Keine Ahnung, warum.

Inzwischen wohne ich mit offenem Fenster, denn laut Heizplan sind im Moment noch minus 20 grad. Und ein Plan muss erfüllt werden, auch wenn es viel wärmer ist. 

Aber die Russen sehen und riechen noch mehr, nämlich dass es noch mal kalt wird ... und in der Tat hat es gestern und heute wieder geschneit. Und da es schon getaut hatte, liegen nun auf riesigen Eisflächen dünne Schneeschichten ... das bietet viel Spaßpotenzial.

Weniger spaßig war mir gestern zumute. Im Zug hat man mir am morgen alle meine Sachen geklaut - Mantel und Rucksack. Die gesammelten Januar-Erinnerungen auf dem Film sind samt Fotoapparat weg, ferner war es kalt ohne Mantel und meinen Rucksack fand ich eigentlich auch schön.

Eigentlich sind die Züge hier sehr sicher. Denn 52 Leute liegen auf engstem Raum. Und keine russische Seele würde es zulassen, wenn das Image von Mütterchen Russland geschädigt wird. Scheinbar haben jedoch wirklich 51 Seelen geschlafen.

Immerhin empfing uns gleich die Polizei auf dem Bahnhof. Zehn Beamte haben sich in aller Ruhe um uns gekümmert, Tee und Schokolade wurden brüderlich mit uns geteilt. Weil uns die Deko so gefiel, haben wir gleich noch den Wandkalender geschenkt bekommen. Die frage, was diese ganze Horde eigentlich macht, wenn keinem Deutschen ein Rucksack geklaut wird, bleibt offen.

Es ging natürlich nicht ohne Dolmetscherin, die aber letztendlich schlechter Deutsch sprach, als ich Russisch. So habe ich die Zeugenaussage doch selbst formuliert. Am Ende wurde uns eine Delegation abgestellt, die mit mir noch eine neue Jacke kaufen ging ... selbst zwei Euro Rabatt hat man noch für mich herausgeschlagen.

Angeblich steht die Chance bei 70 Prozent, dass man die Diebe findet. Fand ich selbst unglaubwürdig. Aber im Moment werden wirklich alle Passagiere der umliegenden drei Wagons von Beamten besucht - die Ticketkopien zur Identifizierung lagen schon nach einer Stunde bei den Ermittlern. 

Ich gebe zu, ein sehr mysteriöses Land.