Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Löhne und Preise in Russland

13. März 2007

In Sibirien geht alles seine geordneten Wege. Nach einem unerklärlich warmen Januar mit bis zu plus vier Grad, hatten wir einen normal kühlen Februar mit rund minus 15 Grad, und nun haben wir einen etwas frischen März mit meist minus zehn Grad. Dennoch taut es tagsüber, denn die Sonne ist inzwischen stark genug um den Schnee trotz Minusgraden wegzubraten.

Apropos Sonne: Nächsten August ist wieder eine totale Sonnenfinsternis für Novosibirsk angesagt ...

Nach der letzten Rundmail kamen viele Fragen zur aktuellen finanziellen Situation der Russen. Die wilden Jahre, in denen in Dollar gezahlt und gerechnet wurden, sind vorbei. Preiskennzeichnungen in Dollar sind seit langem verboten, seit diesem Jahr dürfen auch keine ominösen "Geldeinheiten" - die nach dem Verbot plötzlich überall statt Dollar dastanden und signifikant mit diesem verbunden waren - verwendet werden. Dennoch schreibe ich im folgenden von Euro, um Euch das Rechnen zu ersparen. Hier rollt natürlich eigentlich der Rubel!

Schaut man sich die Absatzzahlen von Mercedes oder Hummer-Geländewagen in Russland an, kann man auf hohe Löhne schließen. Dank der herzzerreißenden Bednarz-Reportagen in der ARD und den schockierenden Spiegel-Berichten über Russland, wissen wir ja alle, dass das alles Fassade ist und in Wirklichkeit alle Bettelarm sein müssen. Keine Sorge, die Wahrheit liegt in der Mitte:

Im Moment verdient man in Novosibirsk als gewöhnlicher Ingenieur, Architekt oder Bankangestellter mit Hochschulabschluss 300 bis 1000 Euro pro Monat. Der Unterschied zwischen Tarifgruppe 2 und 3 in Deutschland ist zugegeben weniger deutlich - gut für den deutschen Architekten, der gerade weniger gefragt ist, schlecht für den Maschinenbau-Ingenieur mit glänzenden Exportzahlen. In Russland spürt der Architekt den Bauboom hingegen direkt an der dicken Geldbörse, der Lehrer merkt jedoch am dünnen Portemonnaies, staatliche Schulen gerade nicht hoch im Kurs stehen.

Neben Lehrern verdienen auch staatliche Ärzte sowie alle ungebildeten Fachkräfte - Verkäuferinnen, Kellnerinnen, Fahrscheinkontrolleure und so weiter - oft nur 150 oder 200 Euro. In Läden, Schulen und Polykliniken trifft man daher entweder Idealisten oder deprimierte, lustlose Angestellte: "Служаю?! / Ich höre?!"

Rentner bekommen eine Rente von reichlich 100 Euro, mit diversen Zuschlägen kann sie auch doppelt so "hoch" sein.

Diese mickrigen Zahlen lassen niedrige Preise vermuten - falsch! Die Waren des täglichen Bedarfs liegen mit wenigen Ausnahmen preislich auf Höhe eines deutschen Edeka:
1 Brot - 60 Cent
1 Liter Milch - 70 Cent
1 Liter Apfelsaft - 1,50 Euro
100 g Käse - 80 Cent
1 Dose Käse Almette - 1,50 Euro
100 g Salami - 1,00 Euro
100 g roher Schinken - 2,00 Euro
1 kg Äpfel oder Apfelsinen - 1,50 Euro
1 kleiner Topf Salat - 1,00 Euro
1 Packung Knuspermüsli - 2,50 Euro
1 gewöhnliche Flasche Shampoo - 2,00 Euro
Wirklich billig sind im Moment nur noch Busfahrscheine (30 Cent) sowie Handygespräche (ab 5 Cent im Netz, ab 10 Cent in andere Netze, 3 Cent pro SMS). Aber schon die Mieten für Mietwohnungen sind jenseits von Gut und Böse: eine unsanierte 1-Raum-Plattenbauwohnung (25 Quadratmeter) kostet 300 Euro warm - möbliert mit Spanblattenmöbeln und hellblauen Fliesen aus den 80ern sowie einem übel riechenden Treppenhaus. Eine sanierte 2-Raum-Wohnung mit einem dreckigen aber immerhin nicht stinkenden Treppenhaus kostet um die 1000 Euro pro Monat. Am Stadtrand wird es billiger - aber wer Wert auf ungefährliche Nachbarn und wohlerzogene Spielkameraden für seine Kinder legt, ist dort falsch.

Die Rentner mit ihren 100 Euro Rente müssen meist keine Wohnung mieten, da sie noch aus Sowjetzeiten eine geschenkte Wohnung besitzen. Hier fallen also nur die Nebenkosten an - inzwischen aber auch 20-30 Euro pro Nase.

Warum langt das Geld dennoch? Zum einen weil die Ansprüche niedriger sind! Die Mode wird nicht alle Halbjahr gewechselt (und sieht dennoch schick aus), man geht seltener weg, in der Disco reicht ein Bier für den ganzen Abend, ... wenn alle kein Geld haben, entsteht auch kein Druck, viel auszugeben.

Und insofern bildet sich nach und nach eine kleine Mittelschicht heraus. Wenn in einer Familie beide 500 bis 1000 Euro verdienen, kann man zusammen mit den ähnlich verdienenden Eltern durchaus eine Wohnung für 40.000 Euro erwerben. Damit fällt der größte Kostenpunkt - Miete - weg und zudem ist man weniger anfällig für die nächste Wirtschaftskrise.