Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Nachwuchs in Russland

21. März 2010

Der erste Schritt zum Nachwuchs unterscheidet sich in Russland und Deutschland natürlich kaum ‐ Kinder bringt auch hier der Klapperstorch. Alternativ findet man Kinder „im Kohl“, wobei mir niemand erklären konnte, wie dies genau zu verstehen ist. Bildliche Darstellungen zeigen einen Weißkohl ‐ ein Kind, umhüllt von ein paar Blättern, zufällig gefunden auf dem Beet auf der Datscha.

Während der Schwangerschaft werden auch in Russland die werdenden Mütter umfassend betreut, Untersuchungen, Ultraschall und allerlei Analysen. Leider haben die Ärzte ein unheimliches Talent, ihre Patientinnen verrückt zu machen ‐ jede kleine Abweichung zieht irgendwelche Medikamente oder gar Krankenhausaufenthalte nach sich. Sicher ist sicher! Und selbst wenn man nichts findet ‐ Vitamine, Blutverdünner und ähnliche Präparate werden auch den gesunden Schwangeren verschrieben. Sicher ist sicher!

Wenn sich die werdende Mutter in den ersten 13 Wochen der Schwangerschaft in den Klinik anmeldet, muss der Arbeitgeber einen Bonus auszahlen ‐ 359 Rubel und 70 Kopeken, umgerechnet 9 Euro.

Beim Mutterschutz ist man in Russland großzügiger als in Deutschland ‐ zehn Wochen vor und zehn Wochen nach der Geburt darf die Mutter zu Hause bleiben. Der Staat zahlt in dieser Zeit 100 Prozent des Gehaltes des letzten Jahres ‐ bis zu einer Höchstsumme von 680 Euro im Monat. Diesem Fakt ist es zu verdanken, dass bei vielen Schwangeren in den letzten Arbeitsmonaten plötzlich der offizielle Lohn schlagartig anspringt. Auch das anschließende Elterngeld, welches bis zum 18 Monat gezahlt wird, orientiert sich am letzten Gehalt, beträgt jedoch maximal 180 Euro. Ferner gibt es vom Staat einmalig 240 Euro Geburtsbeihilfe. Weitere 150 Euro legt der Gouverneur vom Nowosibirsker Gebiet oben drauf ‐ falls man die Geduld hat, dafür extra ein Konto zu eröffnen und diverse Stempel einzusammeln. (Ab dem zweiten Kind erhöhen sich die Summen ‐ zweckbezogen kann man eine Beihilfe in Höhe von 10.000 Euro beantragen, beispielsweise für Wohnraum.)

Der Arbeitsplatz ist übrigens wie in Deutschland bis zu drei Jahre Elternzeit garantiert ‐ theoretisch dürften neben der Mutter oder dem Vater auch die Großeltern diese Regelung in Anspruch nehmen. Doch läuft es in Russland oft klassisch ab ‐ in aller Regel bleibt die Mutter zu Hause, in seltenen Fällen die Oma.

Noch klassischer wird das Thema Geburt behandelt. In den Krankenhäusern ist ein Stück Sowjetunion übrig geblieben. Geburten sind meist nur im Liegen zulässig, ab einer Woche Verspätung wird nachgeholfen und die Ärzte wissen sowieso alles besser. Dummerweise basiert ihr Wissen offensichtlich auf Büchern aus den 60er Jahren. Immerhin wird das Kind nach der Geburt kurz der Mutter gegeben, aber sechs Stunden (!) für Untersuchungen weggeschleppt. Und wenn es aufgrund veralteter Theorien notwendig erscheint, wird das Stillen für drei Tage verboten. Geburten im Wasser werden als unnatürlich dargestellt ‐ im Wasser gebären nur niedere Kreaturen!

Die Geburt ist kostenlos, möchte jedoch der Vater der Geburt beiwohnen, ist meist ein extra Obolus von etwa 200 Euro für eine „Service‐Geburt“ zu entrichten. Bei diesem Service sind dann auch Besuche am Wochenbett erlaubt ‐ täglich von 17 bis 19 Uhr. Ansonsten darf der Vater seine Familie frühestens nach drei Tagen abholen, vorher nur aus dem Hof winken oder Plastiktüten abgeben, welche strengen Regeln unterliegen: keine Blumen, keine Luftballons, keine Süßigkeiten, keine Milchprodukte, nur ausgewählte Säfte, keine Konserven, keine Wurst und keinen Kohl. Wieso trotz dieses Verbotes bis heute die Mär vom Kind „im Kohl“ erzählt wird, ist mir unklar.

In Nowosibirsk gibt es als Alternative eine Privatklinik, wo westliche Maßstäbe vorherrschen und die Ärzte immerhin mit der Literatur der 90er Jahre vertraut sind. Eine Geburt mit Anwesenheit des Vaters kostet hier allerdings auch 2.200 Euro.

Schon im Krankenhaus lernt man in Russland eine Grundlage der russischen Kleinkindpflege: das Wickeln! In Russland werden alle Kinder die ersten zwei Monate in Tücher gewickelt. Windeln, Strampler und ähnliches braucht man erst danach. So ein eingewickeltes Kind sieht ungewöhnlich aus ‐ aber dem Nachwuchs gefällt es, denn in Mamas Bauch war auch nicht mehr Platz!

Viele andere russische Traditionen sind durch die Geburtskliniken leider verloren gegangen. Dazu zähle ich jetzt nicht, dass der Vater die Nabelschnur einer Tochter mit einer Schere, die Nabelschnur eines Sohnes mit einem Messer oder besser einer Axt (!) durchtrennen sollte. Eine interessante Tradition ist, dass das Kind direkt nach der Geburt in das Hemd eingewickelt wurde, welches der Vater während der Geburt trug. Die mystische Bedeutung ist, dass Dämonen das Kind mit dem starken Vater verwechseln sollten. Der praktische Nutzen ist, dass die Kinder so sofort den Geruch des Vaters wahrnehmen und auch seine Antikörper etc. aufnehmen.

Meine Frau wollte ursprünglich in einem moderaten staatlichen Krankenhaus von Nowosibirsk entbinden, dieses schloss jedoch wegen der alljährlichen Reinigungswochen! Der Chefarzt des Ausweichobjekts war uns derart unsympathisch, dass wir zur Privatklinik tendierten. Dann ging es aber plötzlich so schnell, dass wir die zweite Alternative wählten ‐ eine Hausgeburt. Wir hatten uns in privaten Kursen sicherheitshalber darauf vorbereitet. Während der Geburt waren zwei Hebammen anwesend, auch wenn sie dies nach russischem Recht offiziell nicht vorgesehen ist.

So wurde unser Sohn doch in mein Hemd eingewickelt. Nur eine sterile Axt hatten wir kurzfristig nicht im Haus!

Nachtrag: Eine Herausforderung war in unserem Fall noch die Impfung gegen einen möglichen Rhesuskonflikt. Dafür muss innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt der Mutter ein Präparat gespritzt werden. Dieses müssen die Eltern privat kaufen ‐ allerdings war es in ganz Sibirien vergriffen. Der russische Hersteller produzierte gerade Mittel gegen die Schweinegrippe und der Importeur der ausländischen Präparate war bankrott. Im Umkreis von 1000 Kilometern war das Zeug nicht aufzutreiben ‐ obwohl es bei zwölf Prozent aller Geburten benötigt wird und in besagter Gegend über fünf Millionen Menschen leben. Am Ende konnten wir es in zwei Apotheken im 3.500 Kilometer entfernten Moskau finden, wo es Freunde erwarben. Andere Freunde kannten einen Pilot, der die Spritze im Kühlschrank eines Linienflugs nach Nowosibirsk beförderte.