Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Sommer in Sibirien

29. August 2005

Der sibirische Sommer neigt sich dem Ende zu, für Russen ist heute der erste Herbsttag. Es wird also langsam kühl.

Eingeleitet wurde der Sommer mit dem Feiertag "Ivan Kupalo“. In ganz Russland spritzen sich an diesem Tag die Kinder gegenseitig nass. In Novosibirsk machen alle mit, auch die erwachsenen Kinder. Man kommt aus der Metro - wusch, von oben ein Eimer Wasser. Man sitzt im Bus, der Bus hält, die Tür geht auf - wusch, zehn Liter durch die offene Tür. Man geht die Straße entlang, sieht einen Wasserfleck, umrundet diesen - reingelegt. Hinter einem laufen zwei Mädels, geradeaus - wusch, Balkon übersehen. Schutz bietet auch der Arbeitsplatz dank des Computers. Geht man drei Meter davon weg - wusch, drei Mitarbeiter mit Wasserflaschen warten.

Unser Sommerurlaub ging von Deutschland aus in die Ukraine. Das Land steckt im Wandel, der aber am Geldmangel zu ersticken droht. Die Korruption ist zu spüren, die Straßenbahnschaffnerin gibt einen ein Viertel des Fahrpreises wieder, wenn man sein Ticket auf dem Sitz vergisst. Und der Zugschaffner lässt 150 statt 81 Leute in den Wagen - für 2 Euro pro Gast. (Wer tatsächlich schlafen will, muss auf das Gepäckbrett umziehen.) Amüsant waren die Grenzer, die Grimmigkeit von vor zwei Jahren ist einem niedlichen Spieltrieb gewichen. Polen, Ukrainer und Russen - alle erfreuten sich am neuen russischen Visum mit Hologramm.

Mangels Urlaubstagen beschränkte sich der Sommer ansonsten auf Wochenendausflüge:

  • Salzwassersee "Tschany“ (400 Kilometer westlich) - Ausgangspunkt der Hühnergrippe. Wildenten gab es keine, sind wohl grippiert.
  • Abakan (950 Kilometer südöstlich) - Hauptstadt der Republik Chakasien. Endlose weiten, noch mehr salzige Salzwasserseen und die Möglichkeit 110 auf Straßen ohne Asphaltdecke zu fahren. Die Federung des Mietwagens war sowieso im Eimer.
  • Taiga (450 Kilometer südöstlich) - Heimat aller sibirischen Mücken und Stechfliegen. Nun weiß ich, dass ein Fuß nach 25 Stichen leicht anschwillt und nach 35 Stichen einem Kosmonautenschuh ähnelt.
  • Altai (700 Kilometer südlich) - inklusive Ausflug im russischen Militärlaster GAZ 66. Als Kind fand ich die Soldaten auf den Pritschen der grünen Sowjetlaster immer lustig. Nach zwei stunden über Stock und Stein, durch Bergflüsse und Pfützen (in die ein ganzer Landrover passen würde) bedaure ich Soldaten, die so bis in die weite DDR fahren mussten. So ein LKW verbraucht übrigens 60 Liter auf 100 Kilometer.
  • Omsk (700 Kilometer westlich) - mit Besuch im Ferienlager der deutschen GTZ. Ein echtes Pionierferienlager! Mit Morgenappell sowie Marsch in singenden Zweierreihen zum Speiseraum.


Den ganzen Sommer über habe ich versucht, das mir zustehende russisches Wohnrecht zu bekommen. Im Moment muss ich aber erst einmal zum Aidstest, zum Dermatologen, zur Drogenüberprüfung und zum Allgemeinarzt. Ferner brauche ich eine Übersetzung meines Führungszeugnisses sowie des Mietvertrages - beides notariell beglaubigt. Mietverträge werden aber nirgends beglaubigt und auch mein Führungszeugnis akzeptiert kein Notar, mangels Stempel. Fälschungssicheres Papier? Nie gehört!

Aber die Deutschen sind auch nicht besser. Obwohl ich und Ksenia verheiratet sind, konnte sich das Generalkonsulat nicht zu einem einfachen Visum auf Basis der russischen Hochzeit durchringen. Ich muss Ksenia weiter einladen, damit ich nicht nur nach Familienrecht sondern auch nach Ausländerrecht für sie hafte.

Sehr positiv: Den ganzen Sommer funktionierten alle mit bekannten sibirischen Fahrstühle! 

Ein neues russischen Lieblingswort habe ich auch: "Bakenbart", wobei das russische Wörterbuch sowohl für "Backe" als auch für "Bart" andere Vokabeln kennt.